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Spuren durchs Rätikon

Acht Augenpaare richten sich in der DAV-Geschäftsstelle auf die Tischmitte. Dort liegen ausgebreitet zwei Karten mit den Überschriften „Rätikon“ und „Prättigau“. Denn diese beiden Bergregionen sollen unser Ziel für eine fünftägige Durchquerung mit Tourenski sein.

Zwei Wochen später starten wir bei angenehmen Temperaturen in Gargellen, begleitet von leichtem Schneefall und Sonnenstrahlen, die immer wieder aus den Wolken blitzen. Schritt für Schritt und Meter für Meter tauchen wir ein in eine winterliche Bergwelt mit all ihrem  Zauber und all ihren eigenen Gesetzen. Wir betrachten ein abgegangenes Schneebrett mit einer langen Anrisskante und überqueren kurz darauf einen Bach, der sich durch meterhohen Schnee seinen Weg bahnt. Auf dessen Ufersteinen türmt sich der Schnee und verbindet sich weiter oben zu Arkaden. Vorbei am alten Zollhäuschen erwartet uns am Schlappiner Joch ein mit Relief-Enzianen verziertes Steinschild und verrät uns, dass wir nun die Grenze zur Schweiz überschreiten. Den Alltag haben wir mit jeder Spitzkehre und jedem Atemzug abgelegt und jetzt - hier oben - sind wir frei und offen für all diese Zacken und Spitzen, für all die Mulden und Kanten, für all das Weiche und Schroffe, das uns der Blick in die Berge bietet. Wir saugen das Weiß des Schnees, das Blau des Himmels und das Grau der Felsen mit der Freude und dem Genuss auf, im Jetzt und Hier zu sein. Den Aufstieg auf den Gipfel sparen wir uns, denn vor uns liegt eine kräftezehrende Abfahrt in Faulschnee. Träge und schwer umschließt er unsere Ski, gleich einem Bergmonster, das uns festhalten will. Unsere Skischaufeln ragen aus dem Schnee als wären wir beim Wasserskifahren und unsere Körper hängen über der hinteren Bindung. Bögen zu fahren wird zu einer Herausforderung, vor allem an Schneemäulern und Sträuchern vorbei. Den Willen und die Technik haben wir, doch das Monster scheint zu drohen: „So  leicht lass ich euch nicht ins Tal entwischen!“ Aber diesen Kampf gewinnen wir und erreichen das Berghaus „Erika“, das uns mit großer Gastfreundlichkeit, leckerstem Essen und geschmackvollem Ambiente zur ersten Übernachtung einlädt. In dem Wissen, dass ich die Erlebnisse unserer Tour in Wort und Schrift festhalten will, sinniere ich über ein Motto  –  nichts kommt mir in den Sinn, das  meine Eindrücke widerspiegelt. Aber etwas anderes zeigt sich nach diesem ersten Tag. Nämlich, dass wir eine prima Truppe sind, die zusammen wächst, die scherzt und lacht, die genießt und sich freut, in den Bergen unterwegs sein zu können.

Der nächste Tag begrüßt uns mit Sonnenschein und etwas Neuschnee (als würden die Hausdächer mit über zwei Meter nicht schon genug Last tragen). Entlang der Piste steigen wir Richtung Madrisa auf, halten ein Schwätzchen mit unserem Nebenmann, nehmen einen Schluck aus der Thermoskanne, diskutieren über Themen, die uns bewegen, lassen unsere Blicke über die Bergketten schweifen und …… . Schon haben wir die Madrisa zum Greifen nahe. Apropos „Greifen“ - vor dem Lifthäuschen bietet sich uns ein seltsamer Aufbau: ein großer Karton, eine Spülschüssel, ein Holzbrett, ein Kochlöffel an einer Schnur, Vogelfutter? Was hat das zu bedeuten? Wer soll hier gefangen werden? Der Liftangestellte, der für einen Schwatz aus seinem Häuschen kommt, klärt uns auf. Er lockt Finken an, fängt und beringt sie und will wissen, ob sie nächstes Jahr wieder kommen. Martin erbarmt sich als Einziger und trinkt mit dem netten Schweizer noch ein Schnäpschen, bevor wir Richtung Rätschenhorn weiterziehen. Hätten wir alle ein Schnäpschen getrunken, würden wir die zunehmend schlechte Sicht dem Alkohol zuschreiben. Bevor wir gänzlich im Nebel und im Nirgendwo verschwinden, entscheiden wir, vor dem Gipfel abzufahren. Die ersten Schwünge ziehen sich noch leicht in den Schnee, aber dann verlieren wir das Gefühl für das Gelände. Wir sehen keine Kuppen , keine Mulden, keine Rinnen mehr; wir fahren rauf, wenn wir meinen, es geht bergab. Unsere Knie sind weich und unsere Körper gespannt, wie die Sehne eines Bogens. Jeder versucht, mittig auf dem Ski zu stehen, die Balance zu halten und für die nächste Überraschung bereit zu sein. So treibt das nächste Bergmonster mit uns sein Unwesen. Wir meinen es grinsen zu sehen, als auch noch Bruchharsch dazu kommt. Doch es hat uns unterschätzt, denn wir haben mit Klaus einen super erfahrenen Guide, der uns sicher ins Tal und nach St. Antönien leitet. Das Wissen, das unten ein Essen, eine Sauna und ein Bett auf uns warten, lässt in uns Kräfte frei werden, dem das Bergmonster nicht gewachsen ist. Und so treffen wir acht Helden einen weiteren „Helder“ (Insiderwitz), in Form des Allround-Hotel-Boys. Er empfängt uns mit einem Misch-Masch aus Akzenten und schmettert uns gleich mal die Menüfolge vom Eingang herunter. Zwischen Hauptgang und Nachspeise verschwindet er mal schnell, um Bügelwäsche zu machen. Er sorgt für manchen Lacher an diesem Abend und auch am nächsten Morgen, als die Frühstückseier vom Tablett kullern. Als wir uns verabschieden, hat er schon die Krawatte abgebunden und das weiße Hemd aufgeknöpft.

Durch 15 cm Neuschnee ziehen wir vorbei an einer Nassschneelawine, die Haus und Hof gestreift hat, als wollte sie ins Innere schauen. Es macht uns bewusst, wie klein wir in Anbetracht solcher Kräfte sind. Im Alpenrösli in Partnun erwartet uns die nächste Persönlichkeit in Form des Hüttenwirts, in dessen Genuss wir am Abend noch kommen sollten. Wir sind froh, einen Teil unseres Gepäcks abladen zu können, bevor wir Richtung Riedpass aufsteigen. Dieser Tag lässt keine Wünsche offen: Sonne pur, Neuschnee, Hänge, die ein Kribbeln in den Fußsohlen erzeugen und gute Laune, die jedes Bergmonster im  Erdboden versinken lässt. Nach vielen Spitzkehren stehen wir auf dem Pass und sind völlig geflasht von dem Rundumblick, der sich uns bietet. Im Rücken thronen Scheienfluh, Sulzfluh, Drusenturm und viele andere Gipfel; und vor und neben uns schichtet sich Bergreihe an Bergreihe, wie ein aufgebautes Dominospiel. Es braucht ein paar Minuten, bis wir den Anblick in seiner ganzen Dimension erfassen können. Wir sind leer und voll zugleich und ich versuche zu ergründen, was diese Faszination in uns auslöst. Ist es das Gefühl, angekommen zu sein? Ist es das Gefühl, zu schweben und alles Belastende und Schwere im Tal gelassen zu haben? Ist es ein Gefühl von Freiheit und Dankbarkeit? Oder ist es ein Erkennen, dass sich Berge und Menschen mit ihrer Individualität und Einzigartigkeit ähnlich sind? Wollen wir von ihrer Stärke profitieren? Oder sehnen wir uns nach ihrer Standfestigkeit und ihrer Unverrückbarkeit? Wahrscheinlich ist es eine Mischung aus allem! Und obwohl ich keine eindeutige Antwort finde, weiß und spüre ich: Berge machen satt, Berge machen stark, Berge machen süchtig. Ein drittes Mal verzichten wir auf eine Gipfelbesteigung. Dafür gibt es Einzelfotos von jedem, wie er auf einer imposanten Schneespitze steht. Man weiß ja nie! Vielleicht braucht „Alpin“ oder der „Bergsteiger“ mal aufregende Bilder! Danach heißt es „Auf die Skier, fertig, los!“. Wir brettern den ersten Hang hinunter, dann den zweiten, dann den dritten, dann den vierten… . Ich wusste gar nicht, wie viele Endorphine ein menschliches Gehirn beim Skifahren ausschütten kann. Bei Cappuccino und Radler grinsen wir immer noch wie die Honigkuchenpferde. Und das geht den ganzen Abend so weiter, bis wir mehr rollend als gehend in unsere Betten fallen.

Am nächsten Morgen packen wir die Sulzfluh an. Keiner ahnt, was der Tag für uns bereit hält und ich bin immer noch auf der Suche nach einem Motto. Aber wo Fragen sind, gibt es bekanntlich auch Antworten. Das Herz pocht und das Adrenalin steigt, als wir mit den Ski am Rucksack eine Steilpassage hochsteigen. Je höher wir kommen, desto stärker frischt der Wind auf, bis uns ein Föhnsturm mit kräftigen Böen im Griff hat. Er bestimmt, wann in der Spitzkehre umgesetzt werden kann. Er bestimmt, wann die Leichtgewichte unter uns sich klein machen und sich auf den Stöcken gegen den Hang abstützen. Er zehrt an unseren körperlichen und mentalen Kräften und wir entscheiden, auch diesen Gipfel auszulassen und Richtung Tilisunahütte abzufahren. Ein abgeblasener Bergrücken, felsdurchsetztes Gelände und Windgangeln erfordern höchste Aufmerksamkeit und Vorsicht. Und plötzlich ist es da – mein Motto! „Die Mitte!“ Wie oft musste ich in den letzten Tagen meine Mitte finden?  Wie sehr musste ich ausbalancieren, um auf den Ski zu bleiben? Mit welcher Pracht hat sich der dritte und somit mittlere Tag unserer Durchquerung  präsentiert? Wie wichtig ist es, in herausfordernden Situationen, Menschen vor und hinter sich zu haben mit dem Wissen, in ihrer Mitte gut aufgehoben zu sein? Erleichtert, müde und hungrig bevölkern wir am Nachmittag den Winterraum der Tilisunahütte. Felle, Jacken, Rucksäcke, Schuhe, Helme, LVS-Geräte und Handschuhe füllen die Hälfte des Raumes und erwecken den Eindruck, im Lager von Thomas  Jakob zu stehen. Kaum etwas erholt, geht es weiter mit lustigen Sprüchen. Denn immerhin müssen wir noch 1,5 kg Spagetti kochen; eine Paradiescreme ohne Milch und Rührer für den Nachtisch zaubern; heiß diskutieren, ob die Füße im Lager nach vorn oder hinten gehören und ob wir uns längs oder quer legen sollen; ob wir weiter Holzscheite in den Ofen legen oder doch mal lüften, bevor sich eine Pfütze unterm  Fensterbrett bildet. Ob es sich gehört, nach dem Zähneputzen aus dem Fenster zu spucken; ob es sinnvoll ist, die Stirnlampe mit aufs Plumpsklo zu nehmen und wie „Gaga und Plemplem“ man nach 5 Tagen in den Bergen sein kann.

Nach der morgendlichen Aufräumaktion starten wir ein letztes Mal Richtung Tal und genießen noch einige schöne Hänge, bevor wir auf einen mit Raupenrillen vereisten Forstweg stoßen. Irgendwann ist auch der zu Ende. Wir landen in ungewohntem Grün und marschieren abwärts. Klaus wäre nicht Klaus, wenn er nicht beim ersten Bauern fragen würde, ob er ihn ins Tal fährt, damit er den DAV-Bus holen kann. So stecken unsere Ski am Straßenrand im letzten Rest Schnee, unsere Rucksäcke lehnen sich aneinander und wir warten auf einer Steinmauer auf unser Taxi. Das Warten wird uns durch einen Williams vom Bodensee versüßt, den der Jungbauer zu uns bringt. Er ist neugierig, was wir für Leute sind und hat wohl auch ein wenig Mitleid mit uns, wie wir solche Aktionen freiwillig unternehmen können.

Tja, darauf gibt es wenig Aufschlussreiches zu sagen. Das muss man erleben. Das muss man wollen. Aber wir acht sind uns einig: jederzeit wieder! Und in noch etwas sind wir uns einig: gerne wieder mit Klaus! Er besitzt eine prima Kombination aus Bergwissen, aus Führungskompetenz und aus Humor.

 

Geschrieben für Anette, Gisela, Birgit, Helga, Martin, Tommy und Klaus als Erinnerung für fünf aufregende Tage mit lieben Grüßen von Christine